Hubert ist zurück von der WM und hat den folgenden Bericht für unsere Homepage geschrieben:
Je oller, desto doller oder Younger than ever
Bekanntlich sind die Qualifikationsanforderungen für eine Schach-Senioren-WM besonders hoch gesetzt. Man muss eine mindestens 50-jährige Qualifikationszeit durchlaufen haben, um überhaupt die Zulassungsvoraussetzungen erfüllen zu können. So ein Jungspund wie Dommaraju Gukesh würde für eine Senioren-WM gar nicht erst zugelassen. Magnus Carlsen oder beispielsweise Deng Liren mögen ja ganz gute Schachspieler sein, aber auch sie haben die harten Qualifikationsanforderungen für ein Seniorenturnier noch lange nicht erreicht. Nun, ich habe nicht nur die Qualifikationszeit erreicht, sondern konnte im zarten Alter von 63 erstmals die 2000er Marke der Elozahl und der DWZ noch vor meinem 65. Geburtstag knacken. Wo andere ihren schachlichen Zenit überschritten haben, werde ich nach dem Motto „je oller, desto doller“ immer besser! Mr. Winterbottom würde dazu sagen: „younger than ever“.
Über die 1. Turnierhälfte habe ich ja schon in einem Halbzeitbericht informiert. Leider hatte ich es nicht geschafft den Scheich „Scheich Matt“ zu setzen. Sofort wurde mit meinem Mentalcoach nach der Ursache für mein bescheidenes Abschneiden zu diesem Zeitpunkt gesucht. Die Ursache war schnell gefunden. Der falsche Stuhl im Eiscafé, das ich regelmäßig vor meiner Partie besuchte, um ein Eis zu essen, war die Ursache. Der Stuhl in Blickrichtung des Meeres mit dem schönen Regattahafen war der Richtige. Sofort lief es besser.
In der 7. Runde spielte ich meine beste Partie des Turnieres. In der Hauptvariante der Caro-Kann-Verteidigung machte man italienischer Gegner Stefan Boer im 11. Zug mit Lg8? einen zu ängstlichen Zug, weil er sich vor dem in diesen Stellungsbildern üblichen Figurenopfer auf e6 zu sehr fürchtete. Ich fand darauf immer die besten Züge und konnte meinen Stellungsvorteil konsequent ausbauen. Im 22. Zug war es dann so weit. Das Figurenopfer auf e6 ging nun und ich gewann einen Bauern mit einer gefährlichen Drohung. Im 26. Zug hätte ich mit Td1! quasi den Sack zumachen können. Ich wählte De5 mit Mattdrohung auf c7 und b8, was auch nicht schlecht war. Doch nach Dd6 verblieb ich nur in einem Turmendspiel mit zwei Mehrbauern, das auch gewonnen war, aber angesichts meines Riesenvorteils etwas wenig war.
Die Schlüsselpartie dieses Turniers war die 8. Partie gegen den Deutschen Dr. Wolfgang Hartmann. Ich musste die Qualität geben und opferte zudem eine Figur, um wenigstens etwas Spiel zu haben. Es funktionierte! Mein Gegner musste nach einer Mattdrohung seine Dame geben, so dass ich nun mit Dame und 2 Freibauern gegen Turm und Läufer materiellen Vorteil hatte. Mein Gegner lieferte jedoch harte Gegenwehr, so dass am Ende nur noch Dame gegen Turm auf dem Brett war und die Partie erst im 96. Zug entschieden wurde.
In der 9. Partie stand ich gegen den Engländer Philip Crocker rund zwanzig Züge durchweg schlechter. Aber mein Gegner fand nicht wie er seine Stellung entscheidend verbessern konnte. Im 37. Zug schlug ich mit meinem Turm seinen Bauern auf e5 und bot Remis an, was mein Gegner annahm. Die Analyse hinterher ergab jedoch, dass ich in der Schlussstellung deutlich besser stand.
Die 10. Partie gegen den Griechen FM Konstantinos Nikolaidis war ein schnelles Remis nach 10 Zügen. Mein Gegner fühlte sich offensichtlich in der Rossolimo-Variante nicht wohl und bot Remis an.
Die 11. Partie gegen den Elostarken Italiener Antonio Bravetti wollte ich nicht verlieren. In der Leningrader Variante der Holländischen Verteidigung kam es zu einer schwierigen Stellung, die mein Gegner fiel Zeit kostete. Ich gewann einen Bauern, aber mein Gegner kam mit seinem Turm auf die 7. Reihe, so dass ich mich genau verteidigen musste. Leider waren die Drohungen zu vielfältig, so dass ich die Partie verlor. Mit 5 Punkten verpasste ich mit Platz 99 am Ende knapp mein erklärtes Ziel von 50% der Punkte.
So ein WM-Turnier ist aufregend. Es bietet allerhand Kuriositäten, neue Freund- und Bekanntschaften mit Personen aus den unterschiedlichsten Teilen der Welt. Es ist gelebte kulturelle Vielfalt. Mein Frau Barbara schloss Freundschaften mit „Spielerfrauen“ aus Indonesien, Südafrika und Australien. Aber es gab auch so einige Verrücktheiten. Die Einlasskontrollen zum Spielsaal waren strenger als beim Flughafen. Sämtliche Uhren und selbst Kugelschreiber (!) durften nicht ins Spiellokal gebracht werden. Ein Spieler verlor seine Partie weil er eine Plastikuhr am Arm trug. Die Schlusszeremonie wurde im Theater in der Altstadt von Gallipoli ausgetragen. Ein Prachtbau der an das Teatro La Fenice in Venedig erinnert. Nur für die Schlussfeier musste man reservieren! Darauf muss man erstmal kommen. Vor den Partien saßen wir immer mit Niels Gustav Renman auf dem Sofa auf der Terrasse des Grandhotels und plauderten noch ein wenig. Niels ist ein alter Schwede mit einem herrlichen Humor und zudem ein begeisterter Bahnfahrer. Er ist mit seiner Frau mit dem Zug aus Schweden (700 Km nördlich von Stockholm) in 3 Tagen zum Turnier angereist. Er spielte immer an den Spitzenbrettern im S65+-Turnier mit und konnte sich durchaus Chancen auf den Titel ausrechnen. Natürlich wusste Niels wie viele nicht, dass man für die Schlussfeier reservieren muss. Ich sagte zu Niels: „Du musst Dich unbedingt um eine Reservierung kümmern, sonst wirst Du Weltmeister und kommst nicht in das Teatro rein!“ Worauf er antwortete: „That‘s crazy“ und wir begleiteten diese Aussge mit einem schallenden Gelächter. Niels gewann einen Geldpreis und war nicht bei der beeindruckenden Schlusszeremonie. Das ist mehr als tragisch und hat uns sehr betroffen gemacht.
Nach der Schlusszeremonie saßen wir um Mitternacht ein letztes Mal auf unserem Balkon in der Ferienwohnung und hörten dem Meeresrauschen zu und guckten auf unsere Badestelle, da wo wir jeden Morgen vor dem Frühstück im Meer gebadet haben. Da kommt auf einmal jemand die Strandpromenade mit einem großen Pokal vorbei. Es ist der Ukraine IM Alexander Reprintsev, der Weltmeister geworden ist. Offenbar hat er, die zahlreichen Glückwünsche entgegennehmend den Shuttle-Bus zu seinem Hotel verpasst und musste nun die rund 5 Kilometer zu seinem Hotel im Dunkeln mit seinem großen Pott in der Hand zu Fuß laufen. Ich sag Euch: So ein Weltmeister hat es auch nicht leicht!
Die nächste WM findet vom 09.11.2026 bis 22.11.2026 in Banja/Serbien statt. Wer noch überlegt und die Gelegenheit hat, dem kann ich nur raten: Mach es! Ein unvergessenes Erlebnis ist garantiert. Barbara hat vor Ort bei der FIDE schon beantragt, dass sämtliche WM-Turniere gefälligst nur noch am Meer stattfinden sollen, sonst kommt sie nicht mit. Die Adria in einem Jahr ins Landesinnere zu verlegen, dass wird doch für die Serben zu schaffen sein. Was soll ich denn machen, wenn ich im Eiscafé in Banja auf dem falschen Stuhl sitze?
Die Eröffnungsfeier als auch die Abschlussfeier sind auf YouTube sehen:
WSCC 2025 - Cerimonia Inaugurazione
Eröffnungsfeier: https://www.youtube.com/watch?v=yOyWh6XOoGg&t=17s
Abschlussfeier: WSCC 2025 - Ultimo turno e cerimonia di premiazione - YouTube
